Ästhetiken der Grauzonen und Ambiguitäten
Wissenschaftliche Labore, Fließbänder, Archive, Küchen, Flugzeuge, Lager und Hospize besitzen ihre eigene Ästhetik. Das gilt für Geldscheine, Krankheiten, Uniformen, Stammbäume, Staats- und Wappentiere und Waffen im Krieg gleichermaßen. Darin verkörpert sich jeweils eine bestimmte Macht und bringt ihre eigentümliche Herrschaft und spezifische Gewalt zur Erscheinung: Kein politisches System, keine ökonomische Organisation und epistemische Ordnung, keine häusliche, sexuelle oder bürokratische Institution kann es sich leisten, ästhetisch abstinent zu sein. Um wirksam zu sein und ihre eigentümliche Kraft und Gewalt zu entfalten, sind sie jeweils in konstitutiver Weise auf sinnliche Ordnungen, Inszenierungen, Visualisierungen, Fiktionen, Gründungsmythen, Phantasmen, Narrative und Symbole, auf Beobachtungs-, Registrierungs- und Identifizierungsmaßnahmen angewiesen. Welche Rolle, so fragen wir, spielen ästhetische Verfahren, Wahrnehmungsweisen und Darstellungsformen für die Konstitution des Politischen im Widerstreit mit der Politik?
»Wo Macht ist, ist auch Widerstand.« Wo es Gewalt gibt, die »zwingt, beugt, bricht, zerstört«, da gibt es Gegengewalt. Nietzsches und Foucaults Einsicht in relationale und machtdiagnostische Dynamiken hat auch und gerade Konsequenzen für Ästhetiken des Widerstands, für Erfahrungen des Leids, des Verloren-, Bedeutungslos-, Unsichtbar-, Zurückgelassen-, Abgekoppeltseins einerseits und für die erstaunlichen Möglichkeiten andererseits, die sich in Situationen von Passivität und Ohnmacht für neue Sensibilitäten und Resonanzräume, für Umwertungen, Transformationen, fintenreiche Neucodierungen und Stile, listige Enteignungs-, Konsum- und Gebrauchsweisen, subversive Praktiken, Irritationen, Ordnungsstörungen, Lebensformen und revolutionäre Bewegungen nicht zuletzt im ästhetischen Sinne ergeben.
Doch Befehlsmacht und Verweigerung, Gewalt und Widerstand, Fremd- und Selbstbestimmung sind vielfach keine Handlungs- und Leidenssphären, die sich wie Weiß und Schwarz, Land und Meer gegenüberstehen und klar und deutlich voneinander unterschieden wären. Sie entfalten ihre signifikanten Kräfte und Wirkungen vielmehr in vertrackten Beziehungsnetzen, nicht selten in extremer Nähe und in polymorphen Machtrelationen. Unsere kulturhistorische und kulturtheoretische Aufmerksamkeit gilt daher vor allem den Ästhetiken der Grauzonen und Ambiguitäten.