Humboldt-Universität zu Berlin – Institut für Kulturwissenschaft
Robert Spencer: The Exodus, 1928
Ringvorlesung »Flucht und Verdrängung«
ab Wintersemester 2016/2017
Eine Anthropologie, die davon ausgeht, dass Menschen sesshaft sein wollen, und eine Identitätspolitik, die die Frage, wer wir sind, mit der verknüpft, woher wir kommen, müssen gegenwärtige und vergangene Migrationsbewegungen als Phänomene wahrnehmen, die verbunden sind mit Mangel und Konflikt, Gefährdung und Gefahr. Um hier genauer zu differenzieren, sieht sich die psychoanalytische Kulturwissenschaft vor die Aufgabe gestellt, die unbewussten Aspekte gegenwärtiger (politischer und individueller) Fremdheitserfahrungen und ihre historische Genealogie nachzuzeichnen. So kann sie zu einem erweiterten Verständnis dessen beitragen, was Flucht und Verdrängung heute bedeuten können und welche Dynamiken sie entfalten.
Veranstaltet in Kooperation zwischen dem Berliner Institut für Psychotherapie und Psychoanalyse e.V. (BIPP) und dem Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin
WS 2016/17
12. Januar 2017 Bernhard Waldenfels – Fremde im eigenen Haus
Ist der Mensch nicht Herr im eigenen Hause, so betrifft dies auch die Flüchtlinge, die uns als Gäste in Not heimsuchen. Die Flüchtlingsfrage ist so alt wie das Gastrecht. Auch Ödipus endet als umherirrender Asylant. Doch mit der Globalisierung vervielfältigt sich der Status des Flüchtlings. Für eine Phänomenologie des Fremden stellen sich Ankunft und Aufnahme der Schutzsuchenden als ein Doppelereignis dar, das immer wieder neue Antworten hervorruft. Die Gastlichkeit versteht sich nicht von selbst. Feindschaft läßt sich verstehen als verdrängte Fremdheit; dann aber stößt die Verdrängung nicht bloß auf eigene Wünsche und Ängste, sondern ebenso auf fremde Ansprüche. Levinas und Derrida betonen die Unbedingtheit der Gastfreundschaft. Doch diese verwirklicht sich nur als Überanspruch, der die vorgegebenen Bedingungen übersteigt, in einer responsiven Politik, die in das Bestehende eingreift. Dabei stellen sich Fragen wie: Wer nimmt auf? Wo findet die Aufnahme statt, wie lange dauert sie? Welche Zwischeninstanzen kommen ins Spiel? Wo setzen Therapien an? Welche Perspektiven öffnen sich? Was wird den Ankommenden abverlangt? Gibt es nicht auch eine Infantilisierung der Opfer? Es bedarf einer Politik des Fremden, die Eigenes und Fremdes in ein neues Licht rückt. »Wir schaffen das« – wer sind wir, wer seid ihr?
26. Januar 2017 Mario Erdheim – Das Fremde in der Adoleszenz
Die Repräsentanz des Fremden erfährt im Verlauf der psychischen Entwicklung wichtige Transformationen. Eine davon ist geprägt durch die Adoleszenz: Die Fremdenrepräsentanz organisiert die Ablösung vom Familiären und die Zuwendung zum Kulturellen.
09. Februar 2017 Burkhard Liebsch – Politische Verdrängung und Flucht
Nur ursprünglich Fremde können überhaupt ‚zusammen’ leben. Gewalt droht ihnen schon dann ‒ lange bevor sie sich ggf. dazu gezwungen sehen, anderswo eine Zuflucht zu finden ‒ wenn sie für ein Zusammenleben den Preis bezahlen sollen, ihre ursprüngliche Fremdheit zu verdrängen oder zu verleugnen, um auf diese Weise ‚aufgehoben’ zu werden in einer fragwürdigen Familiarität, deren politische Implikationen hier mit Blick auf aktuelle Probleme der Flucht und der Migration bedacht werden.
SS 2017
20. April 2017 Rüdiger Eschmann –Rechtspopulismus – Zur Psychoanalyse des Postfaktischen
Aufklärung tut Not über die anthropologische Notwendigkeit von Fremdheit und Gastfreundschaft, von Differenz und Toleranz. Aufklärung tut Not, aber solange sie die Not verdrängt und verleugnet, die der Rechtspopulismus zu beantworten vorgibt, läuft sie ins Leere. Dann wird Aufklärung als ein weiteres Repressionsmanöver der Eliten erlebt und Wissen, Moral und Realitätsprüfung werden ignoriert. Es sind bereitliegende Muster des Unbewussten, die durch sozialökonomische Faktoren zum Leben erweckt und durch rechte Verführer ausgenutzt werden. Psychoanalytische Hypothesen sollen auf aktuelle sozialwissenschaftliche Befunde bezogen werden.
04. Mai 2017 Inga Anderson – Trauernde Gemeinschaften?
Trauerrituale und öffentliche Äußerungen der Trauer können Gemeinschaften stiften und stabilisieren. Die Ausdrucksformen der Trauer, ihre Gesten, ihre Rhetorik und ihre Symbole, erweisen sich dabei als reguliert und regulierend. Doch zugleich wird dem Affekt der Trauer ein gemeinschaftssprengendes Potential zugeschrieben, eine Kraft, die sich den Ein- und Ausschlüssen einer Regierung weder beugen will noch beugen kann. Welche besondere Rolle spielt diese Spannung dort, wo Verluste betrauert werden, die mit Flucht und Migration einhergehen?
19. Mai 2017 (Freitag!) Alain Variier – Zur Aktualität der Gewalt
Abendvortrag im Rahmen des Symposiums »Wie Gewalt heute denken?«
Indem er in seiner Antwort auf Einstein Recht mit Gewalt verbindet, kommt Freud, nach Totem und Tabu und der ursprünglichen Mordtat, auf die fundamentale Frage nach dem sozialen Band zurück, auf die Gewalt, die es gleichzeitig begründet und bedroht, sowie auf das, was sie reguliert. Aber was ist die Natur dieser Gewalt? Ist es eine oder sind es mehrere? Wenn nach Freud der Zusammenschluss einer Gruppe immer auf dem Ausschluss einer anderen beruht, die den ganzen Hass polarisiert, wie steht es dann heute, in Zeiten der Globalisierung, wo die Grenzen und Traditionen uns nicht mehr vom Anderen trennen; in diesen Zeiten, wo man sich vermischt, wo sich der wachsende Individualismus paradoxerweise auf einen Körper bezieht, der als ein organisches Material begriffen wird, als Kanonenfutter der modernen Kriege, wo die Unterscheidung von militärischer und ziviler Funktion – sich einer Intuition Walter Benjamins fügend – subvertiert wird?
01. Juni 2017 Monika Englisch und Sanja Hodzic, »Der Körper als Vermittler unbewusster Botschaften im transkulturellen Dialog«
Mit dem Körper fühlen wir uns in die Welt ein, er ist vor dem Hintergrund der Dynamik von Flucht- und Migrationsbewegungen wie auch der Hybridisierung unserer Gesellschaften ein sich ständig wandelnder Ort gesammelter Erfahrungen mit dem Selbst, dem Sozialen und dem Kulturellen. Die Einschreibungen der Gesellschaft und Kultur in den Körper gewinnen in unseren Behandlungszimmern zunehmend an Bedeutung – sie warten als »Botschaften des Körpers« darauf, in der Begegnung mit dem Anderen eine Bedeutung zu finden. Wir gehen aus der Perspektive der Theorie und der klinischen Erfahrung im Vortrag der Frage nach, wie sich die kulturelle Dimension der Identität unserer Patienten und unsere eigene in der analytischen Beziehung begegnen. Den unbewussten Botschaften des Körpers kommt in diesem Dialog eine besondere Bedeutung zu.
15. Juni 2017 Thomas Macho – Niemandsland, Todesstreifen, Träneninsel: Zur Entstehungsgeschichte der Nicht-Orte zwischen den Grenzen
Ausgehend von Marc Augés Theorie der Nicht-Orte soll die Geschichte der Übergangszonen zwischen den Staatsgrenzen nachgezeichnet werden. Einerseits wird es dabei um Prozesse der Institutionalisierung (Registrierung, Namensgebung, medizinische Untersuchung, Ausstellung von Dokumenten usw.) gehen, andererseits um die Ausprägung imaginärer Zuschreibungen (des Todes, der Passage, des Unbewussten), die mit psychoanalytischen Theorien und Begriffen kommentiert werden soll.
29. Juni 2017 Liliana Ruth Feierstein, »‚Freud und Marx: wir verzichten auf keinen von beiden!’ Deutschsprachige Psychoanalytiker im lateinamerikanischen Exil«
13. Juli 2017 Susanne Lüdemann, »‚Denn das Ich kann sich nicht selbst entfliehen…’ (Freud mit Arendt / Arendt mit Freud)«
Ringvorlesung »Flucht und Verdrängung«
Eine Anthropologie, die davon ausgeht, dass Menschen sesshaft sein wollen, und eine Identitätspolitik, die die Frage, wer wir sind, mit der verknüpft, woher wir kommen, müssen gegenwärtige und vergangene Migrationsbewegungen als Phänomene wahrnehmen, die verbunden sind mit Mangel und Konflikt, Gefährdung und Gefahr. Um hier genauer zu differenzieren, sieht sich die psychoanalytische Kulturwissenschaft vor die Aufgabe gestellt, die unbewussten Aspekte gegenwärtiger (politischer und individueller) Fremdheitserfahrungen und ihre historische Genealogie nachzuzeichnen. So kann sie zu einem erweiterten Verständnis dessen beitragen, was Flucht und Verdrängung heute bedeuten können und welche Dynamiken sie entfalten.
donnerstags, 14-tägig, 18 bis 20 Uhr c.t. Georgenstraße 47, 10117 Berlin, Raum 0.07
Veranstaltet in Kooperation zwischen dem Berliner Institut für Psychotherapie und Psychoanalyse e.V. (BIPP) und dem Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin
WS 2016/17
12. Januar 2017 Bernhard Waldenfels – Fremde im eigenen Haus
Ist der Mensch nicht Herr im eigenen Hause, so betrifft dies auch die Flüchtlinge, die uns als Gäste in Not heimsuchen. Die Flüchtlingsfrage ist so alt wie das Gastrecht. Auch Ödipus endet als umherirrender Asylant. Doch mit der Globalisierung vervielfältigt sich der Status des Flüchtlings. Für eine Phänomenologie des Fremden stellen sich Ankunft und Aufnahme der Schutzsuchenden als ein Doppelereignis dar, das immer wieder neue Antworten hervorruft. Die Gastlichkeit versteht sich nicht von selbst. Feindschaft läßt sich verstehen als verdrängte Fremdheit; dann aber stößt die Verdrängung nicht bloß auf eigene Wünsche und Ängste, sondern ebenso auf fremde Ansprüche. Levinas und Derrida betonen die Unbedingtheit der Gastfreundschaft. Doch diese verwirklicht sich nur als Überanspruch, der die vorgegebenen Bedingungen übersteigt, in einer responsiven Politik, die in das Bestehende eingreift. Dabei stellen sich Fragen wie: Wer nimmt auf? Wo findet die Aufnahme statt, wie lange dauert sie? Welche Zwischeninstanzen kommen ins Spiel? Wo setzen Therapien an? Welche Perspektiven öffnen sich? Was wird den Ankommenden abverlangt? Gibt es nicht auch eine Infantilisierung der Opfer? Es bedarf einer Politik des Fremden, die Eigenes und Fremdes in ein neues Licht rückt. »Wir schaffen das« – wer sind wir, wer seid ihr?
26. Januar 2017 Mario Erdheim – Das Fremde in der Adoleszenz
Die Repräsentanz des Fremden erfährt im Verlauf der psychischen Entwicklung wichtige Transformationen. Eine davon ist geprägt durch die Adoleszenz: Die Fremdenrepräsentanz organisiert die Ablösung vom Familiären und die Zuwendung zum Kulturellen.
09. Februar 2017 Burkhard Liebsch – Politische Verdrängung und Flucht
Nur ursprünglich Fremde können überhaupt ‚zusammen’ leben. Gewalt droht ihnen schon dann ‒ lange bevor sie sich ggf. dazu gezwungen sehen, anderswo eine Zuflucht zu finden ‒ wenn sie für ein Zusammenleben den Preis bezahlen sollen, ihre ursprüngliche Fremdheit zu verdrängen oder zu verleugnen, um auf diese Weise ‚aufgehoben’ zu werden in einer fragwürdigen Familiarität, deren politische Implikationen hier mit Blick auf aktuelle Probleme der Flucht und der Migration bedacht werden.
SS 2017
20. April 2017 Rüdiger Eschmann –Rechtspopulismus – Zur Psychoanalyse des Postfaktischen
Aufklärung tut Not über die anthropologische Notwendigkeit von Fremdheit und Gastfreundschaft, von Differenz und Toleranz. Aufklärung tut Not, aber solange sie die Not verdrängt und verleugnet, die der Rechtspopulismus zu beantworten vorgibt, läuft sie ins Leere. Dann wird Aufklärung als ein weiteres Repressionsmanöver der Eliten erlebt und Wissen, Moral und Realitätsprüfung werden ignoriert. Es sind bereitliegende Muster des Unbewussten, die durch sozialökonomische Faktoren zum Leben erweckt und durch rechte Verführer ausgenutzt werden. Psychoanalytische Hypothesen sollen auf aktuelle sozialwissenschaftliche Befunde bezogen werden.
04. Mai 2017 Inga Anderson – Trauernde Gemeinschaften?
Trauerrituale und öffentliche Äußerungen der Trauer können Gemeinschaften stiften und stabilisieren. Die Ausdrucksformen der Trauer, ihre Gesten, ihre Rhetorik und ihre Symbole, erweisen sich dabei als reguliert und regulierend. Doch zugleich wird dem Affekt der Trauer ein gemeinschaftssprengendes Potential zugeschrieben, eine Kraft, die sich den Ein- und Ausschlüssen einer Regierung weder beugen will noch beugen kann. Welche besondere Rolle spielt diese Spannung dort, wo Verluste betrauert werden, die mit Flucht und Migration einhergehen?
19. Mai 2017 (Freitag!) Alain Variier – Zur Aktualität der Gewalt
Abendvortrag im Rahmen des Symposiums »Wie Gewalt heute denken?«
Indem er in seiner Antwort auf Einstein Recht mit Gewalt verbindet, kommt Freud, nach Totem und Tabu und der ursprünglichen Mordtat, auf die fundamentale Frage nach dem sozialen Band zurück, auf die Gewalt, die es gleichzeitig begründet und bedroht, sowie auf das, was sie reguliert. Aber was ist die Natur dieser Gewalt? Ist es eine oder sind es mehrere? Wenn nach Freud der Zusammenschluss einer Gruppe immer auf dem Ausschluss einer anderen beruht, die den ganzen Hass polarisiert, wie steht es dann heute, in Zeiten der Globalisierung, wo die Grenzen und Traditionen uns nicht mehr vom Anderen trennen; in diesen Zeiten, wo man sich vermischt, wo sich der wachsende Individualismus paradoxerweise auf einen Körper bezieht, der als ein organisches Material begriffen wird, als Kanonenfutter der modernen Kriege, wo die Unterscheidung von militärischer und ziviler Funktion – sich einer Intuition Walter Benjamins fügend – subvertiert wird?
01. Juni 2017 Monika Englisch und Sanja Hodzic, »Der Körper als Vermittler unbewusster Botschaften im transkulturellen Dialog«
Mit dem Körper fühlen wir uns in die Welt ein, er ist vor dem Hintergrund der Dynamik von Flucht- und Migrationsbewegungen wie auch der Hybridisierung unserer Gesellschaften ein sich ständig wandelnder Ort gesammelter Erfahrungen mit dem Selbst, dem Sozialen und dem Kulturellen. Die Einschreibungen der Gesellschaft und Kultur in den Körper gewinnen in unseren Behandlungszimmern zunehmend an Bedeutung – sie warten als »Botschaften des Körpers« darauf, in der Begegnung mit dem Anderen eine Bedeutung zu finden. Wir gehen aus der Perspektive der Theorie und der klinischen Erfahrung im Vortrag der Frage nach, wie sich die kulturelle Dimension der Identität unserer Patienten und unsere eigene in der analytischen Beziehung begegnen. Den unbewussten Botschaften des Körpers kommt in diesem Dialog eine besondere Bedeutung zu.
15. Juni 2017 Thomas Macho – Niemandsland, Todesstreifen, Träneninsel: Zur Entstehungsgeschichte der Nicht-Orte zwischen den Grenzen
Ausgehend von Marc Augés Theorie der Nicht-Orte soll die Geschichte der Übergangszonen zwischen den Staatsgrenzen nachgezeichnet werden. Einerseits wird es dabei um Prozesse der Institutionalisierung (Registrierung, Namensgebung, medizinische Untersuchung, Ausstellung von Dokumenten usw.) gehen, andererseits um die Ausprägung imaginärer Zuschreibungen (des Todes, der Passage, des Unbewussten), die mit psychoanalytischen Theorien und Begriffen kommentiert werden soll.
29. Juni 2017 Liliana Ruth Feierstein, »‚Freud und Marx: wir verzichten auf keinen von beiden!’ Deutschsprachige Psychoanalytiker im lateinamerikanischen Exil«
13. Juli 2017 Susanne Lüdemann, »‚Denn das Ich kann sich nicht selbst entfliehen…’ (Freud mit Arendt / Arendt mit Freud)«